Sokops Rache by Birgit Lohmeyer

Sokops Rache by Birgit Lohmeyer

Autor:Birgit Lohmeyer [Lohmeyer, Birgit]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2013-02-14T00:00:00+00:00


Die Unrast ist schlimmer als in Waldeck. Dort hatte er einen Job, später das Studium, das die Stunden und Minuten eines Tages ein wenig schneller fließen ließ, strukturierte, ihn ablenkte. Nun, wo Ämtergänge, Einkleidung, Wohnungseinrichtung sowie Fahrzeug- und Waffenbeschaffung erledigt sind, er die Touren für Paetow aufgegeben hat, sich immer stärker auf Oldenburg konzentriert und nur noch die Besuche bei Weller einem festen Plan folgen, lebt er in einem bizarren Rhythmus, der – wann, kann er nicht mehr nachvollziehen – gewisse halluzinatorische Züge angenommen hat. Tag für Tag schlägt er die Augen auf – sechs Uhr – und hat gefühlte dreißig Zentimeter über sich rohe Holzplanken: die gezimmerte Decke über seinem Hochbett im fensterlosen Zimmer. Jeden Morgen diese Sargphantasie, als wäre er Nosferatu. Danach: Morgentoilette mit Radioberieselung. Man verlost, bejubelt, bewirbt: Freizeitparkaufenthalte, ihm unbekannte angebliche Popstars, sogenannte Mega-Events. Das alles hat nichts mit ihm zu tun, erscheint ihm durchweg völlig fremd. Dann Kaffee im Hinterhof, Zwiegespräch mit den auf seine Brotbrocken wartenden Sperlingen. Tag für Tag Gänge durch die Altstadt, deren Straßen ihm nun wieder ebenso vertraut sind wie vor fünfzehn Jahren. Stunde um Stunde läuft er, auf der Hut vor der verrückten Journalistin, fällt niemandem auf, da jetzt im Frühsommer unzählige Touristen die Straßen und historischen Gebäude bevölkern. Manchmal eine Unterhaltung mit irgendjemandem, dem er irgendwo begegnet – Tourist, Angler, Verkäuferin – manchmal schweigt er stundenlang, sitzt rauchend am Hafen, nimmt irgendwann seine Wanderung wieder auf. Von Zeit zu Zeit trifft er sich mit Strom, erfährt den neuesten Stadtklatsch. Dazwischen: Sonnetanken im Hinterhof und Lesen, viel Lesen; die Bibliothek ist sein Lebensmittelmarkt für geistige Nahrung. Paetow, der als Täter kaum noch in Betracht kommt, hat er nur ein, zwei Mal wieder gesehen, will sich, bis er sicher ist, den Mörder identifiziert zu haben, nicht weiter verstricken. Er grübelt unablässig, wie er es schaffen kann, Oldenburg zu einem Geständnis zu zwingen. Und wie er Nicole aus allem heraushalten kann. Sie beide sehen sich am Wochenende, fahren gemeinsam im Auto herum, gehen spazieren, lieben sich. Er ist glücklich-unglücklich mit dieser Situation, schwingt in einem Zustand des Irrsinns straff gespannt zwischen seiner Lust, seiner Liebe zu ihr und dem sicheren Ende ihrer Beziehung, wenn er sein Ziel erreicht haben wird.

Obwohl er so viel auf den Beinen ist, wird er nie wirklich müde, ist überreizt und unruhig – ein Wolf, der an den Käfiggittern entlang läuft, bis die Pfoten bluten. Dieses neue, selbstbestimmte Leben fühlt sich noch immer so an, als wäre es das Leben eines anderen.

Er zieht die Wohnungstür hinter sich zu, geht mit schnellen Schritten den im Lampenschein liegenden Spiegelberg entlang, als hätte er wirklich etwas vor, irgendeine Verabredung um Mitternacht. Die Nächte sind noch erstaunlich kalt. Vor seinem Gesicht dampft der Atem. Er stopft die Fäuste in die Jackentaschen. Vom Hafen her kriecht Nebel herauf. Die Fenster in den schmalen Altstadthäusern sind dunkel. Über der Frischen Grube wallen wattige Schwaden. Die Turmuhr von St. Nikolai schlägt die volle Stunde. Niemand spaziert um diese Zeit auf den dunklen Straßen. An der Schweinsbrücke tätschelt er den in die Luft gereckten Bauch der sich räkelnden Schweineskulptur.



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